Elena Malzew, Staying with the Trouble

Lerchenfeld Nr. 51Hochschule für bildende Künste Hamburg2020

Text on the occasion of Verena Issel's appointment at the Hochschule für Bildende Künste Hamburg

Elena Malzew
Staying with the Trouble

Als ich das erste Mal durch eine Ausstellung von Verena Issel ging, überkam mich das Gefühl, mich inmitten eines großen Uhrwerks zu bewegen. Ich lief zwischen fein aufeinander abgestimmten Zeichnungen, Wand- und Bodenobjekten, Papiercollagen und hängenden Holzreliefs. Die Installation nahm mich ein und transformierte den gesa mten Raum grundlegend, einzelne Objekte fügten sich zu einem holistischen Ganzen, das in stetiger Bewegung war. Ich war mittendrin und ein Teil davon. Ähnlich wie in einem Uhrwerk, in dem ein komplexes, kleinteiliges und filigranes Zusammenspiel ineinander greift, bewegten sich die einzelnen Arbeiten und Elemente der Rauminstallation miteinander. Sie waren mit Scharfsinn komponiert und in Präzision aufeinander abgestimmt. Die Ausstellung Trophy Delight in der Galerie Dorothea Schlüter (2014) machte auf mich damals zunächst einen unbeschwerten und fast heiteren Eindruck, doch begann sich nach kurzer Zeit im Raum und in der Auseinandersetzung, mit den Arbeiten ein leises Unbehagen einzuschleichen: Die Ausstellung entstand nach einem Reisestipendium der Künstlerin nach Papua Neuguinea und erzählte von den kolonialen Verbrechen der christlichen Europäer und den Problemen eines westlichen, reisenden Blicks auf die dortige post-koloniale Gegenwart. Die neue Kontextualisierung zwang mich, mein spontanes Bild radikal zu überdenken. Erst mit etwas Abstand erschloss sich das Gesamtbild und das übergeordnete Thema. Dabei muss sie nicht in die Ferne reisen, ihr Interesse gilt auch dem Alltag, den Routinen, Abläufen und seinen Materialien.

Oft sind es komplexe und auch komplizierte Zusammenhänge und heikle Probleme, die in ihrer Vielfältigkeit zugänglicher werden, indem sie einerseits in Einzelteile zerlegt werden und indem Verena Issel andererseits für deren Darstellung die Form einer Rauminstallation wählt, denn das ermöglicht neue Perspektiven auf diese Fragestellungen. So entstehen Arbeiten, die nichts vom strengen Formalismus oder der Konzeptkunst haben, es sind keine Arbeiten der Kategorie, bei der die Besucherin kaum etwas abseits des Begleittexts wahrnimmt.

Ihre Kritik moralisiert dabei nie, sondern reflektiert die eigenen Verstrickungen. Sie macht die eigene Herangehensweise zum konstitutiven Moment der Arbeit, eine Art reflexiver Kniff, mit dem sie die Situiertheit zum Ausdruck bringt. Sie problematisiert die eigene Perspektive und positioniert sich selbst nicht in einem objektivistischen Außerhalb.

Kunst ist für Verena Issel ein ethnographisches Projekt, eine ästhetische Erforschung der Welt. Nach ihrem Diplom an der HFBK Hamburg 2011, aber auch schon im Laufe ihres Studiums bereiste sie zahllose Orte, an denen sie studierte, ausstellte oder Residencies wahrnahm. Diese Umtriebigkeit wird von einer unermüdlichen Neugierde aufrechtgehalten. Denn Verena Issel macht Irritationen produktiv für ihre Kunst: Die Konfrontation mit dem Fremden irritiert die eigenen Annahmen und Grundsätze und zwingt, gegebene Dinge zu hinterfragen und gegebenenfalls umzulernen. Ohne Zweifel hinterließen diese (internationalen) Konfrontationen Spuren in ihrem Denken. Hilfreich war ihr dabei auch das vorangegangene Studium der klassischen Philologie, von Altgriechisch, Latein, der antiken Literatur,  Philosophie und Geschichte. Das Ergebnis ist ein belesener und referenzreicher Katalog an Arbeiten.

Wie umgehen mit der Ungerechtigkeit, den Seilschaften, der Ausbeutung, der Klüngelei und der Intransparenz innerhalb des Kunstfelds? Verena Issel nimmt das Feld selbst unter die Lupe. Ihre Themen sind regelmäßig groß und unbequem. Vor dem Hintergrund, dass heute nicht-männliche Kunstschaffende noch immer weniger verdienen, seltener Einzel-Ausstellungen haben und weniger Stipendien bekommen, adressiert sie mutig diese blinden Flecken und patriarchalen Strukturen [1]. In Leipzig baute sie beispielsweise im dortigen Kunstverein eine Bar auf, bei der die Getränkepreise entsprechend der Einschätzung des eigenen Privilegs zu bezahlen waren. Die Flaschenetiketten waren mit Informationen bedruckt, die über die Ungleichheiten in Bezug auf Herkunft und Geschlecht im Kunstfeld informierten. Auch  in früheren Arbeiten von Verena Issel wie ArtBoy 2010 kehrte sie den männlichen Blick (male gaze) und die permanente Objektivierung des Frauenkörpers – gerade im Feld der Kunst! – um und inszenierte junge männliche Künstler, nackt und reich an kunstgeschichtlichen Referenzen, für einen Wandkalender.

Nicht zuletzt die stillschweigende Komplizenschaft mit der bestehenden Ordnung ist wichtig für diese Formen der Ungerechtigkeit, dies zeigt sich u.a. in Form einer akzeptierten und radikalen Selbstausbeutung der Künstlerinnen. Verena Issel ist es wichtig zu betonen, dass es auch alternative Strategien innerhalb des Betriebs gibt, die allerdings nicht gelehrt und somit nur schmerzhaft gelernt werden. Es bräuchte kollektive Anstrengungen, um auf die Realität des künstlerischen Feldes vorzubereiten.

Einige Jahre nach der eingangs erwähnten Ausstellung lernte ich Verena Issel persönlich kennen und durfte sehen, dass das Private für sie ebenfalls eine politische Frage ist, eine Frage der Haltung. Wie ist es Jahre später nach dem eigenen Studium als Professorin an eine Institution wie die HFBK zurückzukommen? Das Problem ist keins: wir können gar nicht zurückgehen an den alten Ort, das ist ein Grundproblem der Reflexion, denn es gibt keinen Stillstand. Zum einen kehren wir nicht als die gleiche Person zurück und zum anderen bleibt auch der Ort nicht der gleiche.

1) vgl. Hassler, Katrin (2017): Kunst und Gender: Zur Bedeutung von Geschlecht für die Einnahme von Spitzenpositionen im Kunstfeld. Bielefeld: transcript Verlag.