Elena Malzew, Pathosformel der Erinnerungskultur – Die Stadt Hamburg und ihr Gedächtnis

Städtische Galerie Nordhorn, HFBK Hamburg2025

This text was published in the catalogue accompanying the exhibition Op’n Kiwief – Neue Perspektiven aus Hamburg, which was on view from 7 September to 3 November 2024 at Städtische Galerie Nordhorn.

Wie bewegen sich Menschen durch die Stadt? Wie werden urbane Umwelten wahrgenommen: als eine Ansammlung von idyllischen Eindrücken, die an einem*r vorbeiziehen oder als ein historisch gewachsener Raum, der – auch die gewaltförmigen – Spuren der Vergangenheit in sich trägt? In Walter Benjamins Schriften wird die Stadt zu einem Archiv und Gedächtnis, in dem nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit, die in der Architektur und der urbanen Umwelt eingeschrieben ist, begegnet wird. Statt einer linearen Geschichtsschreibung, die Ereignisse als Fortschritt deutet, betont er ein Verständnis von Geschichte als Zusammenspiel von Brüchen, Erinnerungen und verdichteten Momenten (vgl. Benjamin 1982).

Die künstlerische Praxis von Kervin Saint Pere kreist um Spuren der Vergangenheit und ihrer Wirkung auf die Gegenwart. In seiner fortlaufenden Serie ‘Die Stadt Hamburg und ihr Nachleben des Kolonialismus’, untersucht der Künstler die sogenannten Kulturdenkmal-Tafeln der Stadt Hamburg und analysiert, welche Erzählungen und Selbstbeschreibungen sie bereitstellen. Diese Tafeln, die in Hamburg an öffentlichen Institutionen, privaten Häusern, Brücken und Denkmälern leicht an einer leuchtend-dunkelblauen Farbe erkennbar sind, enthalten Textabschnitte, welche diese Orte historisch kontextualisieren und deren Entstehungsgeschichte sowie historische Bedeutung vermitteln. Das erinnerungspolitische Ziel, ein vielschichtiges Bild der Geschichte der Stadt an die Stadtbewohnerinnen und Besucherinnen zu vermitteln, wird dabei allerdings verpasst, da die Vergangenheit häufig so inszeniert wird, dass sie in die Marketing-Narrative der Stadt passt und problematische Aspekte der Geschichte verschwiegen werden. Die selektive Erzählung verfehlt es, der historischen Komplexität und ihren Auswirkungen gerecht zu werden.
Kervin Saint Pere nimmt diese Kulturdenkmal-Tafeln als Ausgangspunkt seiner Arbeit und schlägt alternative geschichtliche Darstellungen vor, die ein differenziertes Bild bieten. Seine Texte greifen die Rhetorik der jeweiligen ursprünglichen Tafel auf, legen jedoch Leerstellen der Geschichtserzählung offen. Während die Kulturdenkmal-Tafeln zu ‘Afrikahaus’ und ‘Asiahaus’ (beide im Kontorhausviertel) sich auf die architektonische Geschichte und die Bauweise konzentrieren, bietet Saint Pere eine differenziertere Perspektive, indem er auf die kolonialen Verflechtungen und die Rolle der Woermann-Firma im Völkermord an den Herero und Nama (‘Afrikahaus’) sowie die ideologische Aufladung der Architektur, die nationalistische Symbolik und Verknüpfung  zwischen Kolonialismus und Jugendstil (‘Asiahaus’) hinweist. Er beleuchtet die unerzählten rassistischen Darstellungen und die Verbindungen zum Kolonialismus.
Der Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg, Jürgen Zimmerer, zeigt in seinem Buch ‘Hamburg: Tor zur kolonialen Welt’ (2021) eindrucksvoll, wie die Hafenstadt Hamburg ihren Reichtum und ihre wirtschaftliche Bedeutung maßgeblich kolonialer Ausbeutung verdankt. Der Hamburger Hafen diente als Drehscheibe des globalen Kolonialhandels, in dem Rohstoffe, Produkte und Menschen zirkulierten und die Stadt zu einem zentralen Akteur der global-kolonialen Wirtschaft machten. Er ist daher eine Verdichtung kolonialer Vergangenheit, die ein kritisches Erinnern und eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Kolonialismus erfordern (vgl. Zimmerer 2021). Auch an Orten wie der Speicherstadt oder dem Kontorhausviertel, die zentrale Knotenpunkte und Symbole des damaligen Wirtschaftswachstums waren, finden sich heute viele blaue Kulturdenkmal-Tafeln, ohne Verweise auf den Ursprung des Reichtums durch koloniale Ausbeutung. Die Tatsache, dass die Speicherstadt und das Kontorhausviertel 2015 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurden, ohne dass das koloniale Erbe im Antrag oder bei der Verleihung des Titels erwähnt wurde, bezeichnet Zimmerer deshalb als ‚koloniale Amnesie‘ (vgl. Zimmerer 2021: 23).

Die ersten Auseinandersetzungen von Kervin Saint Pere mit den Kulturdenkmal-Tafeln in Hamburg fanden nicht innerhalb der Ausstellungsräume statt, sondern direkt im öffentlichen Raum. Als performative Spaziergänge angelegt, führte der Künstler die Besucher*innen und Interessierten zu den blauen Tafeln und erzählte von den geschichtlichen Leerstellen in den Texten. Häufig wurden die Spaziergänge mit Interventionen kombiniert, bei denen Saint Pere die zuvor auf halbdurchsichtigem Seidenpapier ausgedruckten Texte während der Gespräche vorübergehend an den blauen Tafeln anbrachte und die Texte somit überblendete. Nach mehreren Spaziergängen erkannte er auffällige Regelmäßigkeiten in den Geschichtserzählungen, die auf den Erinnerungstafeln präsentiert werden. Diese schildern bevorzugt heroische Geschichten, die den Besuchenden aus aller Welt ein harmonisches, positives Bild der Stadt verkaufen wollen. Durch diese systematischen Gegenerzählungen und Richtigstellungen transformierte sich die Medialität Saint Peres Arbeiten von temporären Interventionen hin zur Realisierung von Objekten für Ausstellungskontexte.

In der von Anne Meerpohl und Thomas Niemeyer kuratierten Ausstellung ‘Op‘n Kiwief’ in der Städtischen Galerie Nordhorn zeigt Kervin Saint Pere seine Serie ‘Die Stadt Hamburg und ihr Nachleben des Kolonialismus’ (2022-2024). Diese besteht aus sieben blauen Erinnerungstafeln, die an den im Ausstellungsraum aufgestellten Bauzäunen angebracht sind, sowie aus drei leeren Aluminiumplatten ohne Lack und Text, die an Gerüste angelehnt sind. Saint Peres Tafeln sind Repliken der städtischen Kulturdenkmal-Tafeln. Sie bleiben vermeintlich neutral und informativ und ahmen die Originale genau nach: in Farbe (dunkelblau), Material (Aluminiumplatte), Format (60 x 60 cm) und der vermeintlich neutralen Sprache. Formal nüchtern und auf das Wesentliche reduziert, untersucht der Künstler erneut die Darstellungen von Geschichte und ihrer Funktion im Stadtbild Hamburgs und vertieft seine Auseinandersetzung damit. . Diesmal sind die blauen Tafeln in drei formale und inhaltliche Kategorien gegliedert, die jeweils durch Bauzaun-Säulen symbolisiert werden: Kontorhäuser, die ursprünglich im Besitz von privaten Unternehmen oder Einzelpersonen waren (Asiahaus, Afrikahaus und Chilehaus); Institutionen (Vorlesungsgebäude der Universität Hamburg, Haus der Deutschen Angestellten Gesellschaft und Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt); und – erstmals – Denkmäler (Bismarckdenkmal). Diese Aufteilung zeigt auf, dass sowohl die staatliche als auch die individuelle und institutionelle Ebenen des Vergessens eine Kontinuität bis in die Gegenwart hat. Die Nachahmungen verweisen auf die nicht erzählten Geschichten und legen eine gesellschaftliche sowie strukturelle und systematische Verdrängung offen, um sich mit einer schwierigen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Entscheidung, mit Bauzäunen als Display zu arbeiten, verdeutlicht die Analogie zu einer Erinnerungspolitik, die als aktive Baustelle gegen die vorherrschende ‘koloniale Amnesie’ ankämpft.
Jede Tafel und jeder von Saint Pere umformulierte Text greifen die Verknüpfung ästhetischer Formen mit ideologischen Bedeutungen auf, die bereits in den Original-Kulturdenkmal-Tafeln enthalten sind, und kehren diese subversiv ins Gegenteil. Diese Verknüpfung bildet den konzeptuellen Kern der Arbeit des Künstlers und verweist, allein durch den Titel seiner in ‘Op‘n Kiwief’ gezeigten Arbeit, auf den Begriff des Nachlebens, der vom Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg formuliert wurde. Dieser beschreibt, wie antike Bilder und Symbole in späteren Epochen wieder auftauchen und in veränderten Kontexten weiterwirken. Sie bewahren ihre emotionale Intensität, die er als Pathosformeln bezeichnete, und beeinflussen die Gegenwart, indem sie als kulturelles Gedächtnis und dynamische Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungieren (vgl. Warburg 2012). So untersucht Kervin Saint Pere nicht nur die Verschriftlichung der Geschichte in Form von Texten, sondern auch die überlieferten, häufig rassistischen oder antisemitischen Darstellungen, die auf den Fassaden und in der Kunst am Bau zu finden sind. Er zeigt, dass es dabei sowohl um die nicht aufgearbeitete Geschichte geht als auch um die Tatsache, dass diese problematischen Darstellungen Denkmuster reproduzieren, die ein Nachleben bis in die Gegenwart tragen. Die drei leeren Aluminiumplatten, eine Art unbeschriebene Leinwände, die in der Ausstellung an Bauzäunen lehnen, fungieren hier als Platzhalter für zukünftige Erinnerungstafeln, die koloniale Pathosformeln und selektive Fassungen von Geschichte enthalten und einer kritischen Bearbeitung bedürfen. Die Frage danach, wessen Geschichten im öffentlichen Raum erzählt werden und wessen Erinnerungen das Gedächtnis einer Stadt prägen – und wer sich infolgedessen von der urbanen Umwelt gesehen und adressiert fühlt –, bestimmt nicht nur eine Aufarbeitung von Vergangenheit, sondern formt auch eine widerständige Praxis für eine nichtlineare Geschichtsschreibung, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem kontinuierlichen Dialog stehen und sich gegenseitig beeinflussen.



Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk. In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Walter Benjamin. Das Passagen-Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Warburg, Aby (2012): Der Bilderatlas MNEMOSYNE. In: Warnke, Martin; Brink, Claudia (Hg.): Der Bilderatlas MNEMOSYNE. Aby Warburg: Gesammelte Schriften - Studienausgabe. Berlin: De Gruyter Akademie Forschung.
Zimmerer, Jürgen (2021): Deutschlands Tor zur Welt. Weltoffenheit und koloniale Amnesie in Hamburg. In: Zimmerer, Jürgen; Todzi, Kim Sebastian (Hg.): Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung. Göttingen: Wallstein, S. 11-28.