Elena Malzew, No sleep Gang: Schlaf ist für Looser

Kultur und Gespenster, Nr. 18, no ballanceTextem, Hamburg2017

Text and final publication (ed. with Britta Peters, Nele Wulff, et al.) on the occasion of the exhibition project Krankheit als Metapher. Das Irre im Garten der Arten in Hamburg.

Elena Malzew
NoSleepGang: Schlaf ist für Loser

»No sleep Gang. Ich tue die ganze Nacht wake gewesen sein & habe mir Business Strategien ausgethinkt!« [1]. Kaum jemand verkörpert das, was der postfordistische Kapitalismus vom Schlaf erwartet so schamlos und zugleich konsequent wie der österreichische Selfmade-Rapper Money Boy. Nachtruhe wird der Produktivität der Ich-AG diametral gegenübergestellt und muss als Zeit, in der das Subjekt dem ewig wachenden Zyklus von Selbstoptimierung, Arbeit und Warenproduktion entzogen ist, abgelehnt werden: »Hab die ganze nacht nicht gesleept sondern gehustlet und moves gemacht. Schlaf ist für Loser!« [2] – unter dem Hashtag #nosleepgang überspitzt Money Boy in der Sprache seiner Subkultur genau jene gouvernementalen Anforderungen, die zum Leitmotiv der 24/7-Gesellschaft geworden sind.

Kleine Geschichte des Schlafs

Während in der industriellen Gesellschaft die Schichtarbeit den Arbeits- und Freizeitablauf der Arbeiter und Arbeiterinnen regulierte und notdürftig trennte, ist die Grenze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit in der gegenwärtigen postfordistischen Gesellschaft längst fließend geworden. Obwohl der Achtstundentag und die Fünftagewoche in den meisten Berufsfeldern formal bestehen, ist das Konstrukt trennscharfer Arbeitszeiten durch das zunehmend abstrakter werdende Verhältnis von Zeit und Arbeit ausgehöhlt, nicht zuletzt weil die rund um die Uhr fließende Kommunikation und Akkumulation der digitalisierten Welt sowie die fortgeschrittene Automatisierung den heutigen Produktionsablauf determinieren. Fertigkeiten, die ausschließlich am Arbeitsplatz ausgeübt wurden, werden im Kontext unserer Gegenwart zur individuellen Aufgabe jenseits des streng definierten Arbeitsplatzes. In zahlreichen Arbeitsfeldern hört der Arbeitstag und der auf Produktivität gerichtete Zeitvertreib nicht mit dem Verlassen des Büros auf, während durch Ich-AGs die Flexibilisierung der Arbeitszeiten auch formal zur Privataufgabe geworden ist. Auch wenn anti-technologische Entschleunigungstrends und New-Age-Fantasien vom totalen Ausstieg in regelmäßigen Abständen wiederkehren, so sind doch unwiederbringlich all unsere Lebensbereiche vom 24/7-Dispositiv kapitalistischer Produktion erfasst. Besonders deutlich lässt sich der Drang zur absoluten Produktivität gegenwärtig am Umgang mit Schlaf ablesen, jenem Bereich, der ursprünglich das Individuum eindeutig in einen privaten Raum von den systemischen Verwertungsmechanismen entließ. Längst ist der Schlaf seiner unschuldigen Rolle von Erholung, Entzug, Verweilen und Passivität enthoben. Während der Mensch schläft, ruhen die Flüsse von Nonstop-Kommunikation und -Konsumption nicht und die vermeintliche Nachtruhe wird zu einer Leerstelle der Arbeitsleistung und zu einer individuellen Schuld angesichts der permanenten Produktion und Kapitalakkumulation.

Während in den Frühzeiten der Industrialisierung noch ein Patron oder ein Arbeitgeber mit modernen Wohnunterkünften den Schlaf und die private Ruhe seiner Angestellten zu verbessern versuchte, so ist die Verantwortung für die Optimierung und Organisation von Schlaf und Freizeit in der gegenwärtigen Kontrollgesellschaft längst auf das Individuum übergegangen. Die von Foucault beschriebene Sorge um sich selbst, die das Subjekt als gouvernementale Lebensführung erbringt, zeigt sich heute exemplarisch in einer »Sorge um den Schlaf«, wie der Philosoph Alexei Penzin in seinem Essay »Rex Exomnis. Schlaf und Subjektivität in der kapitalistischen Moderne« aufzeigt [3].

Auch Schlaf, der angeblich ein Drittel unserer Lebenszeit ausmacht, wird nun mit konkreten Fragestellungen konfrontiert: Wie lange sollte man schlafen? Wie viele Tiefschlafstunden hat man pro Nacht? Wie erreicht man den produktivsten Schlaf? Wie lässt sich die Länge des Lebens mit einer Fragestellung zum Schlaf beeinflussen?

Das Individuum im 24/7-Kapitalismus

Wie stark Selbstorganisation und Selbstständigkeit die Arbeitswelt verändern und gleichzeitig präkarisieren, zeigt sich prototypisch in den Feldern der kulturellen Produktion. Natürlich kann auch der Schlaf den Bedürfnissen von ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital untergeordnet werden, wie sich an jener Routine zeigt, die der Kurator Hans Ulrich Obrist für sich reklamiert: In einem Gespräch über »fighting the internal clock« spricht er ausführlich über seine »sleep patterns«, über sinnvollen Schlaf und die besten Methoden, die eigene Produktivität zu steigern. So hat der Kurator mit einer Balzac’schen Art seine Karriere begonnen, die darin bestand, 52 Tassen Kaffee täglich zu trinken. Die Kaffeediät erwies sich schon bald als wenig nachhaltig und wurde durch eine neue ersetzt: 15-minütige Power-Naps alle drei Stunden. Eine deutlich angenehmere und effektivere Strategie, jedoch kaum mit sozialem Leben kompatibel. Nach langem Suchen und in Absprache mit einem Chronobiologie-Professor habe Obrist schließlich die wirksamste Methode gefunden, wie er berichtet: nicht später als Mitternacht ins Bett zu gehen und um 5 Uhr aufzustehen [4]. So hat der Kurator zudem genug Zeit für seinen Brutally Early Club, ein auf 6.30 Uhr in der Früh angesetztes Treffen, das verschiedene Akteure aus Kunst, Wissenschaft, Literatur und Architektur in verschiedenen Londoner Cafés versammelt, die nur zu jener Uhrzeit Zeit für ein spontanes Treffen haben [5]. Ganz im Sinne einer idealen Verwertung von Zeit.

Pyjama Issues und der kommodifizierte Schlaf

Die um sich greifende individualisierte Sorge um den Schlaf öffnet dabei auch einer Ausdifferenzierung von Geschäftsangeboten Tür und Tor. Große Lifestyle-, Fashion- und Technikunternehmen sowie diverse Start-ups stellen unermüdlich neue Produkte vor, die zur Bewältigung oder Verschönerung des Schlafs gedacht sind. Zwei größere Trends zeichnen sich dabei deutlich ab: Entweder wird der Schlaf wegen seiner scheinbaren Unproduktivität verkürzt und soll mithilfe diverser Apps und Programme möglichst komfortabel gestaltet werden. Oder er wird bewusst zelebriert als eine Praxis, die man sich trotz der Hektik des Alltags leistet, um ein ausgeglichenes, erfolgreiches und bewusstes Leben zu führen und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit in der aktiven Tageszeit zu erhöhen. »Guter, erholsamer Schlaf ermöglicht es jedem Menschen ein erfülltes, produktives Leben zu führen. Aus dieser Überzeugung haben wir die Filip Lenz Matratze entwickelt« [6] – verspricht das gleichnamige Start-up, das sich ausschließlich der Herstellung einer Matratze verschrieben hat, die es an eine »anspruchsvolle« und überwiegend urbane Zielgruppe vermarktet. Zu den großen Lifestyle-Booms der letzten Jahre wie Bio-Ernährung und Yoga gesellt sich nun also auch der Schlaf. Die schnöde Matratze wird mit  gewaltiger Bedeutung aufgeladen und neue Hersteller, die sich ausschließlich auf den Matratzenvertrieb spezialisieren, verkaufen Konsumenten Lösungen, um für gesellschaftliche Ansprüche eines Rund-um-die-Uhr-Betriebs gewappnet zu sein: »Guter Schlaf misst sich nicht in Stunden, sondern im Komfort. Dichte Schäume der neuesten Generation gepaart mit technologisch fortschrittlichsten Stoffen aus Baden-Württemberg sind das Geheimnis für traumhafte Nächte« [7] (Muun Matratzen) oder »Du lebst, wie du schläfst« [8] (Caspar Matratzen).

Die Kommodifizierung des Schlafs geht jedoch weit über die Matratze hinaus und hat auch das nötige Schlafzubehör und Nachtruhe-Gadgets erfasst, die von Luxusunternehmen und Designern mit eigenen Entwürfen und Produkten bedacht werden. Portable Nachtkissen wie beispielsweise »Muji to sleep« [9] von Muji oder »Ostrich Pillow« [10] von Studio Banana Things sollen in jeder erdenklichen Lebenslage Power-Naps ermöglichen, während Modedesigner wie Marc Jacobs die Models für die Herbst/Winter-Kollektion 2013/2014 für Louis Vuitton in Pyjamas über den Laufsteg flanieren lassen.

Quantified Schlaf

Die individuellen Ansprüche an den Schlaf werden von verschiedensten produktförmigen Ästhetisierungen und konsumkulturellen Angeboten bedient, die wiederum ihren Teil dazu beitragen, das Schlafen nicht als natürliche Routine ruhen zu lassen, sondern als eine stets neu zu lösende Herausforderung zu beleben. Während diverse Geräte und Apparate ununterbrochen arbeiten und Informationen rund um die Uhr fließen, gilt es, den vermeintlich inaktiven Teil des 24-Stunden-Zyklus aktiv zu nutzen: Möglichst wenig, jedoch effektiv zu schlafen. Das, was Obrist noch mit Unmengen von Kaffee zu bewältigen versuchte, lässt sich inzwischen mithilfe von kleinen Programmen zur Erfassung biometrischer Daten lösen. Längst gibt es zahlreiche Smartphone-Apps, mit denen sich individuelle Daten erheben lassen, die den eigenen Alltag vermessen und verbessern sollen: Jogging-Apps trainieren den Hobby-Läufer, Abnehm-Apps helfen, den gewünschten Körper zu modellieren, und Konzentrations-Apps steigern die Arbeitseffizienz effektiver, als es extrinsische Motivation je könnte. Diese Programme sind die jüngste Verlängerung jener Apparate und Selbstführungstechniken, die die 24/7-Gesellschaft ihren Mitgliedern bietet. Die Selbstvermessungsprogramme sind dabei längst so populär und alltäglich, dass sich online und offline die sogenannte Quantified-Self-Bewegung formiert hat, in der besonders eifrige Nutzer und Nutzerinnen gemeinsam die besten Performance-steigernden Tipps austauschen.

Natürlich macht die Selbstoptimierung nicht vor der Nachtruhe halt, tatsächlich legt die Quantified-Self-Bewegung gerade auf das Schlaf-Hacking wert. Das haben auch selbsterklärte Schlafexperten erkannt, die in den neuesten Versionen ihrer Ratgeberliteratur zusammenfassen, wie der Schlaf mithilfe von Gadgets und Apps optimiert werden kann [11]. Die Apps seien förmlich eine Geheimwaffe, um den Nutzer und die Nutzerin zu erfolgreichen Managern zu machen und das körperliche Bedürfnis nach Schlaf zu verringern oder optimal zu nutzen, heißt es da [12] »Manche Apps wachen wie ein Engel über Ihren Schlaf« [13], bringt eine Best-off-Schlaf-App-Liste das Versprechen der Apps auf den Punkt. Mit selbst entwickelten Anwendungen versuchen Entwickler und Entwicklerinnen, ihre Tiefschlafphasen je nach Präferenz besser zu organisieren, um ausgeschlafener zu sein oder auch um überhaupt weniger schlafen zu müssen. Die Auswahl reicht von Sleep-Time-Apps, die das Verhalten der Schlafenden analysieren, bis hin zu Sleep-Cycle-Power-Nap-Apps, die den Schlafzyklus verfolgen und die User und Userinnen zum günstigsten Zeitpunkt wecken [14].

Für eine neue Theoretisierung von Schlaf

Auch wenn die alltägliche Wiederkehr des Schlafens es uns vorgaukeln mag, ist Schlaf nicht einfach eine biologische Gegebenheit, sondern vielmehr eine kulturell bestimmte Aufgabe, die von gegenwärtigen Subjektivierungsweisen überformt wird. Dabei offenbart ein Blick auf den gewandelten individuellen, technischen und kommerziellen Umgang mit dem Schlaf, wie biopolitische Subjektivierung auch körperliche Routinen erfasst und determiniert. Es ist genau diese Vermengung von Körperlichkeit und gesellschaftlichen Zwängen, von »unschuldiger« Biologie und gesellschaftlich-subjektiver Zuschreibung, weshalb der Philosoph Alexei Penzin den Schlaf als produktiven Untersuchungsgegenstand begreift, an dem sich die gegenwärtigen Beziehungen von Körper, Kapital und Politik analysieren lassen. Um die kulturelle Verfasstheit von Schlaf zu verdeutlichen, zeichnet Penzin eine kulturgeschichtliche Entwicklung und Repräsentation vom Schlaf, die sich von der Antike bis zum gegenwärtigen Diskurs erstreckt. Der Untersuchungsgegenstand Schlaf legt für ihn ein zentrales Problem und zentrale Mängel wissenschaftlicher Theoriebildung offen: Während traditionelle geistes- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen von Schlaf hauptsächlich psychoanalytische Motive wie Freuds Traumdeutung verfolgten, betrachten die Naturwissenschaften und der Medizin verwandte Disziplinen Schlaf als einen rein biologischen Gegenstand und reduzieren ihn auf eine natürliche Funktion des menschlichen Körpers. In der biopolitischen Kontrollgesellschaft ist der Schlaf eben keine naturalistische Selbstverständlichkeit, sondern zur gouvernementalen Aufgabe des Subjekts geworden, welches ihn optimiert und im Sinne einer idividuellen Selbstführung in die Gesellschaft einbringt. Die Quantified-Self-Apps zur Optimierung der Nachtruhe müssen dabei als eine markante kybernetische Verkörperung dieser »Sorge um den Schlaf« gelesen werden.

Für Penzin kommt der Schlaf im Zeitalter der 24/7-Gesellschaft als Untersuchungsgegenstand einer biopolitischen Untersuchung gleich, in der die »Natürlichkeit« des Schlafs von seiner anthropologischen, kulturellen und politischen Grundierung konterkariert ist und die damit jeglichen biologistisch-psychologischen Reduzierungen zuwiderläuft. Insbesondere jener Vulgärpsychologie, die Schlaf lediglich als privaten und individuellen Wirkmechanismus deutet, ist damit widersprochen. Vielmehr ist der Schlaf die gesamtgesellschaftlich verbindende Aktivität, die eine Analyse kontrollgesellschaftlicher Subjektivierungsformen erlaubt und somit vielleicht sogar einen biopolitischen Solidaritätsraum öffnet.

Fußnoten:

1) Online unter: https://twitter.com/YSLPlug/status/285622417789956096. Zuletzt abgerufen: Mai 2016
2) Online unter: https://twitter.com/search?q=%22Hab%20die%20ganze%20nacht%20nich%20gesleept%20sondern%20gehustlet%
3) Vgl. Alexei Penzin, »Rex Exsomnis: Sleep and Subjectivity in Capitalist Modernity«, in:dOCUMENTA (13). The Book of Books, Catalog 1/3. Kassel 2012, S. 63 3–636, hier S. 633
4) »Hans Ulrich Obrist on Sleep. Interview mit Max Tholl«. Online unter: http://idealistmag.com/sleep/hans-ulrich-obrist-on-sleep/. Zuletzt abgerufen: März 2016
5) »Brutally Early Club«: Brendon Bell-Roberts in Conversation with Hans Ulrich Obrist. Online unter: http://artsouthafrica.com/220-news-articles-2013/2542-brutally-earlyclub-brendon-bell-roberts-in-conversation-with-hans-ulrich-obrist.html. Zuletzt abgerufen: März 2016
6) Online unter: https://filiplenz.de/. Zuletzt abgerufen: Juli 2016
7) Online unter: http://muun.co/about. Zuletzt abgerufen: Juli 2016
8) Online unter: https://casper.com/de/de?utmsource=google&utmmedium=cpc&utm_campaign=S.DE-Brand-BRAND-Casper&utmcontent=BRANDCAT-Casper-matratzen-BMM&utm_term=+casper-+matratzen. Zuletzt abgerufen: Juli 2016
9) Online unter: http://sleep.muji.net/de/. Zuletzt abgerufen: Mai 2016
10) Online unter: http://www.ostrichpillow.com/. Zuletzt abgerufen: Mai 2016
11) Online unter: http://www.amazon.de/schlafen-besten-Deutschlands-f%C3%BChrendem-Schlafexperten/dp/389883218X. Zuletzt abgerufen: Mai 2016
12) Online unter: https://www.allaboutapps.at/2014/03/die-7-besten-schlaf-apps/. Zuletzt abgerufen: Juni 2016
13) Online unter: http://www.focus.de/gesundheit/qualitylifeforum/smartphone-alsschlaflabor-das-sind-die-zehn-besten-gesundheits-appsid4624957.html. Zuletzt abgerufen: April 2016
14) Online unter: https://www.allaboutapps.at/2014/03/die-7-besten-schlaf-apps/. Zuletzt abgerufen: April 2016