Accompanying text for the exhibition by Lucia Graf Just listen to the water as part of Current – Art in Urban Space, Stuttgart
Elena Malzew, Get ready for the future
Current Stuttgart2023
Elena Malzew
Get ready for the future
Omsk
“Sie sind sehr ambitioniert. Sie werden große Dinge erreichen.” – stand auf dem Zettelchen eines Glückskeks, den ich gestern aus dem Plastikkorb an der Kasse des Asia-Supermarkts bei mir um die Ecke mitnahm. Ich liebe diese in Goldpapier gewickelten Kekse, kleine Mini-Orakel des Alltags. Die Sprüche sind meistens wohlwollend oder im schlimmsten Fall harmlos-irritierend, oft der schlechten Übersetzungen geschuldet, die man jedoch mit ein wenig Mühe zum Besseren interpretieren kann.
Als ich in den 1990er Jahren in die Schule ging, war allerlei Esoterik, wie Horoskope, Tarotkarten, Halbedelsteine, Hypnotiseure und Wunderheiler, die durch den Fernseher hindurch ihre Magie mit dem Aufladen des Wassers vor Millionen Menschen veranstaltet haben, unheimlich populär und klassenübergreifend in Russland präsent. Womöglich lag es daran, dass die Lücke, die mit der Abschaffung der Kirche im Kommunismus mit neuen spirituellen Praktiken gefüllt werden musste und nochmal durch die aufkommende kapitalistische Marktlogik nach dem Fall des Kommunismus mit neuer Stärke aufblühte. Man konnte dem Ganzen nicht ausweichen, vor allem wenn die jüngere Schwester regelmäßig eifrig aus Sternzeichen-Ratgebern und Wochenhoroskopen vorlas. Das machte Spaß und manchmal traf es sogar die eigene Persönlichkeit (smiley). Ich legte mir ein paar Kristalle zu und ging sogar mit meinen Freundinnen zu einer Wahrsagerin, die außerhalb der Stadt lebte und uns bei Kerzenlicht unsere Zukunft vorhersagte. Bei einer Freundin und mir sah sie damals “einen langen Weg” voraus, ob meine Migration nach Deutschland wenige Jahre später etwas mit ihrer Vorhersagung zu tun hatte, kann ich nicht sagen.
Delphi
Ein anderer langer Weg lag vor Lucia Graf, als sie im Jahr 2022 auf der Suche nach Orakeln eine Recherchereise nach Griechenland antrat. Ihre Beschäftigung mit verschiedenen Weis- und Vorhersagungspraktiken begann bereits 2017, als sie zunächst für ein Jahr nach Athen ging und sich neben dem Studium mit der Geschichte und Gegenwart des Kaffeesatzlesens und Tarotlegens beschäftigte (ich erinnere mich zudem vage an einen geheimnisvollen Liebestrank, den ich mal von Lucia erhalten habe).
In Griechenland existieren bis heute 27 über das ganze Land verstreute Orakelstätten, unter anderem die sicherlich prominenteste: das Orakel von Delphi. Etwa 200 km von Athen, in Richtung Landesinnere, auf einem knapp 2500 Meter hohen Berg, im Apollon-Tempel in der antiken Stadt Delphi gelegen, war dieses Orakel die wichtigste Anlaufstelle für Fragen und Weissagungen in Sachen Kriegsführung, politischer Entscheidungen und wirtschaftlichen Ratschlägen. Orakel waren Entscheidungshilfen für viele Ratsuchende in Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens (vgl. Theweleit 2023: 77).
Auffällig ist, dass die meisten Orakelstätten an Brunnen, Quellen, Höhlen und Erdspalten lagen, das heißt an sogenannten Übergängen zwischen Ober- und Unterwelt. In Delphi gab es neben einem Erdspalt auch zwei Quellen. Diese Orte fungierten als Kommunikationskanäle zwischen den Bewohner*innen der Unterwelt, die mit prophetischen Begabungen ausgestattet waren, und den Menschen an der Erdoberfläche. Orakel waren mit anderen Worten Vermittlungsinstanzen, die das Wissen und die Auskunft über das anstehende Schicksal von innen nach außen übertrugen (vgl. Rosenberger 2001: 129). Antike Orakel waren nicht nur für die Prophezeiung der Zukunft gedacht, sondern dienten zudem als Offenlegungen vergangener und verborgener Wirklichkeitsbereiche. Jede Weissagung setzte voraus, dass neben einer sicht- und erkennbaren Wirklichkeit immer auch eine verborgene existiert, die mit der erfahrbaren Wirklichkeit durch heilige Kanäle verbunden ist und nur dank der Hilfe von Orakeln verständlich werden kann. Diese verborgene Wirklichkeit soll durch das Orakel in ihrer Zeichenhaftigkeit verstanden werden können: Alles kann und wird als Hinweis und Zeichen auf etwas Verborgenes gedeutet , das es nur auf eine mögliche Antwort hin zu interpretieren gilt (vgl. Von Stuckrad 2005: 649).
Aber zurück zu Lucia Grafs Recherchereise zu den griechischen Orakelstätten. Ihre Neugier, die Suche nach Orientierung, aber auch die Hoffnung auf Inspiration zum Schreiben brachte sie also zum berühmten Orakel nach Delphi. Enttäuscht musste sie allerdings feststellen, dass Delphi eine vollends von Tourismus überformte Kleinstadt ist, ohne Anzeichen von Spiritualität, Orakel und Zukunft-Auskünften. Der Übergang in die touristische Unterwelt begann direkt hinter der Hoteltür, nämlich da, wo die Menschen-Massen die Straßen überschwemmten. Die einzige Offenbarung für sie standen als Slogans auf den T-Shirts der Tourist*innen, die sie adressierten, überall zu sehen waren und die direkt zu ihr zu sprechen schienen. Das Verhältnis zwischen dem (imaginierten) Orakel und seinen Botschaften erhält in Delphi eine andere Dimension: T-Shirts werden zu den Trägern der Sprache des Orakel.
Bad Cannstatt
Just listen to the water ist eine Audioarbeit, die aus zwei Texten besteht: Do you wanna know? (2022) und Simply be closer to what you do (2023), die mit einem Soundscape unterlegt werden. Das Stück ist in Bad Cannstatt, dem ältesten Stadtbezirk von Stuttgart, am Veielbrunnen, zur vollen und halben Stunden vom 14. bis zum 24. September 2023 zu hören. Bad Cannstatt ist nach Budapest der zweit mineralwasserreichste Ort Europas. Im 19. Jahrhundert gab es dort viele Badehotels und Kurorte, da den Quellen Heilwirkung nachgesagt wird, die Trinkkuren sollen bei verschiedenartigen Leiden und Erkrankungen helfen.
Der Veielbrunnen verdankt seinen Namen einer in Bad Cannstatt berühmten Ärztefamilie: der Vater Albert von Veiel war Begründer der ersten deutschen Hautklinik und ließ den Brunnen bauen und sein Sohn Theodor von Veiel legte im Jahr 1890 die Quellenanlage an. Der Brunnen wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgestaltet, nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde er neu aufgebohrt und instand gebracht. Heute hat die Anlage eine halbrunde Form und besteht aus einer Travertinwand mit vier Wasserspeiern und einem vorgelagerter Becken, das von beiden Seiten mit kleinen Mauern umgeben ist, die jeweils mit einer Schildkröten- und Krebs-Plastik aus Muschelkalk verziert sind. Aus vier Speiern fließt immer noch das Heilwasser mit der folgenden komplizierten Zusammensetzung: Natrium-Calcium-Chlorid-Sulfat-Hydrogenkarbonat-Mineralsäuerling (vgl. Riederer 2020).
Genau an diesem Ort mischt Lucia Graf Just listen to the water mit den Geräuschen des fließenden Wassers aus dem Trinkbrunnen ab. Sowohl mit ihrer regelmäßigen ritualartigen Aufführung (jede halbe Stunde), als auch durch die unmittelbare Nähe zu einer Heilwasserquelle, spielt die Künstlerin mit dem Bild des Veielbrunnen als Orakelstätte.
Der Text von Just listen to the water besteht aus Samples der T-Shirts-Sprüche, die sie seit ihrer Reise nach Delphi überall sammelte: in griechischen Orakelstätten, auf Leipziger Straßen, Einkaufszentren und im Internet. Die einzelnen Sätze und Parolen wurden ausgedruckt, analog in einzelne Wörter zerschnitten und neu kombiniert zusammengesetzt. Die Ästhetik und Bedeutung, die in ihnen ursprünglich eingeschrieben war, wird deformiert, Textfragmente, die an widersprüchliche Imperative und Selbstoptimierungs-Weisheiten erinnern – Get ready for the future, Trust the calm, Be a nice human, It’s time to be an Outside explorer – und der daraus resultierende Text droht zu einem Orakelspruch unserer Gegenwart zu werden.
Literatur:
– Rosenberger, Veit (2001): Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte, Stuttgart, Deutschland: Konrad Theiss Verlag.
– Riederer, Günter (2020): Wo liegt eigentlich dieser Veielbrunnen? Archiv0711. Blog des Stadtarchivs Stuttgart [online] https://archiv0711.hypotheses.org/1586 [abgerufen am 17.08.2023].
– Theweleit, Klaus (2023): a-e-i-o-u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues, Berlin, Deutschland: Matthes & Seitz.
– Von Stuckrad, Kocku (2005): Weissagung, in: Auffarth, Christoph, Bernard, Jutta, Mohr, Hubert (Hrsg.): Metzler Lexikon Religion: Gegenwart - Alltag - Medien 4 Bde., Heidelberg, Deutschland: J.B. Metzler.