Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year

Museum Berlin-KarlshorstZwieseler Straße 4, 10318 Berlin16.11.2024 – 5.1.2025

Michail Gorbatschow, der damalige Generalsekretär der Sowjetunion, wandte sich zwischen 1987 und 1989 mit einer Reihe von Neujahrsansprachen an die US-amerikanische Bevölkerung, in denen er unter anderem seine Freude über die „Lösung der Afghanistan-Frage“ zum Ausdruck brachte. Der damals scheidende US-Präsident Ronald Reagan wiederum gratulierte seinerseits den sowjetischen Menschen und begrüßte die gemeinsamen Schritte in Richtung Frieden und Wohlstand auf der ganzen Welt.

Im Zentrum der Ausstellung Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year der Künstlerin und Dokumentarfilmregisseurin Jelena Jeremejewa steht die gleichnamige 18-Kanal-Video- und Soundinstallation, die Neujahrsansprachen von Staats- und Regierungschefs aus der Sowjetunion, der Ukraine, Deutschland, Russland, Belarus und auch aus den USA von 1982 bis heute versammelt. Diese verdichteten Abziehbilder der damaligen, wie gegenwärtigen Utopien, nimmt die Künstlerin zum Anlass, im Museum Berlin-Karlshorst über den Nachhall und die Vielschichtigkeit politischer Narrative aus ihrer migrantischen Perspektive nachzudenken. Jeremejewa befragt die Brauchbarkeit politischer Rituale, in einer zerklüfteten Welt, in der Einheit, Gemeinsinn und Solidarität umso erbitterter heraufbeschworen werden, je mehr sie gesamtgesellschaftlich vermisst werden.

Wenn keine gemeinsame Geschichte, der man folgen könnte, existiert, wenn sowohl der Sender als auch der Empfänger einer Botschaft radikal verschieden sind, wenn kein geteiltes Wissen und kein geteiltes Ressentiment möglich sind, welche Formen kann dann das Gemeinsame überhaupt annehmen?
Die Ansprachen von Repräsentant*innen der Staatsgewalt, die einst bedeutsam waren, die Botschaften der Kontinuität, des Neuanfangs und der nationalen Einheit transportieren sollten, verschmelzen hier zu einem nur teilweise verständlichen Klangteppich — einer gleichzeitig erklingenden, mehrstimmigen Polyphonie. Obwohl jede Ansprache für sich genommen eindeutige Verweise und Bezüge zum historischen Kontext aufweist, wird durch die Fragmentierung und inhaltliche Dichte der Collage deren Kontext entleert, Ausgesprochenes gerät in Konkurrenzverhältnisse, die Bedeutungen der Worte verblassen und zeitgleich entstehen neue Bedeutungen.
Es entfaltet sich ein Sog aus mehrsprachigen, um Aufmerksamkeit buhlenden Fragmenten und taxierenden Blicken, die die Zuhörenden buchstäblich nicht aus den Augen lassen, wie sie in ein komplexes Geflecht aus Würdigungen und Segenssprüchen, Vereinnahmungen und Trost, ermutigenden Appellen und hoffnungsvollen Erwartungen hineingezogen werden. Die begehbare Installation, fungiert als eine Zeitkapsel, macht das physische Erleben der Reden und der eingelagerten Botschaften und politischen Narrative körperlich spürbar.

Jeremejewa hinterfragt damit nicht nur die Macht und Bedeutung politischer Rituale, sondern eröffnet einen Möglichkeitsraum, in dem sowohl das Gesagte als auch das Unsagbare erkundbar werden. Dieses Ritual wird nicht nur durchschreitbar; die Abstraktion der Zukunft, der latenten Angst vor ihr aber auch die Last der vergangenen Zeit sowie dessen, was von ihr bleibt — die Dominanz und Penetranz der einen Erzählung, die unweigerlich mit anderen konkurriert — werden zunächst sinnlich erfahrbar. Die demonstrative Macht und das singuläre Recht, zu sprechen und den Blick des Zuschauers auf sich zu ziehen, werden hier durch die Häufung der Sprechenden aufgelöst. Die sprechenden Staatsoberhäupter*innen werden herabgesetzt und befinden sich nun in der entgegengesetzten Position, eingebettet in die unüberschaubare Masse ihresgleichen. Sowohl das Flackern der Reden, die zunehmend zur Kakophonie und zum Lärm werden, als auch die konsequente Mehrsprachigkeit erschweren das Verstehen. Es bleibt ein Gewirr aus Worthülsen, die von Jahr zu Jahr wiederholt werden: „Genossen..., Freunde..., ein schwieriges Jahr ..., Frieden und Prosperität..., Wir gemeinsam..., Glück und Gesundheit im kommenden Jahr..., Familie...“. Schablonen, die paradoxerweise völlig bedeutungslos und zugleich machtvoll sind. Das Publikum montiert sich seine eigene zeitlose Neujahrsansprache, seine eigene Abfolge. Die Fülle der möglichen Querverbindungen bleibt in Gänze unzulänglich und ist nur im Fragment zu erfassen.
Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year thematisiert somit den übergreifenden Wandel politischer Versprachlichungen von Realität, indem sie aufzeigt, wie durch politische Rhetorik Gemeinschaften und Räume aufgelöst und neu entworfen werden. In ihnen schimmert nicht nur das Sag- und Hörbare jener Zeiten durch, stets wird auch das Bild einer Phantomgemeinschaft entworfen — ein Wir, welches mal als Nation, mal als Volk, mal als Schicksalsgemeinschaft adressiert, umsorgt, geführt, kontrolliert werden will.

Rahmenprogramm

15.11.2024
17h Überblicksführung durch das Museum Berlin-Karlshorst
19h Eröffnung, mit Impuls-Vortrag von Prof. Dr. Jan C. Behrends

30.11.2024
18h ‘Offene Begegnungen’ mit dem Kunsthistoriker, Medienwissenschaftler und Verleger Wladimir Velminski

3.12.2024
19h ‘Offene Begegnungen’ mit der Künstlerin, Aktivistin und Feministin Marina Naprushkina

7.12.2024
18h Sprechstunde der Ministerin für Mitgefühl im historischen Kapitulationssaal

05.01.2025
Finissage
14h Screening von Orlando – oder eine kurze Geschichte der Mittelklasse (2023) mit anschließendem Gespräch zwischen Jelena Jeremejewa, Catalina Flórez und Dr. Beáta Hock
16h Neujahrstafel von Olga Monina
17h Podium mit Dr. Darja Klingenberg, Lena Prents, Jelena Jeremejewa und Elena Malzew

Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
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Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
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Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
Jelena Jeremejewa, Frohes Neues Jahr С Новым Годом З Новим Роком Happy New Year, 2024, Installationsansicht, Foto: Silke Briel
Kapitulationssaal, Berlin Museum-Karlshorst, Foto: Silke Briel
Berlin Museum-Karlshorst, Foto: Silke Briel