Elena Malzew, Martin Karcher, Archäologie des Selbst

Kunstverein Wolfenbüttel2021

Accompanying text for the exhibition by Matej Bosnić Tracing Identities at Kunstverein Wolfenbüttel

Elena Malzew, Martin Karcher
Archäologie des Selbst

Wo fing ich an? Matej Bosnić legt in seiner Ausstellung ‘Tracing Identity’ systematisch die historischen Sedimentierungen seines Selbst frei. Er betreibt dafür eine autoethnografische Spurensuche entlang von mehreren, vorsichtig ausgewählten Einsatzpunkten. Wie sich zeigen wird, ist das biografische Arbeiten allerdings nie nur ein bloßes Aufzeigen, sondern immer auch ein Hervorbringen von Identität.

Es beginnt im Dunkeln, in den Abgründen und hinter schweren verschlossenen Türen: Im 20. Jahrhundert veränderten die Theorien der Psychoanalyse das moderne Selbstverhältnis des Menschen nachhaltig mit der These, dass wir uns selbst kein vollends transparentes Wesen sind. Plötzlich waren es prärationale Triebe und ödipale Zwänge, auf die wir sprachlich keinen Zugriff haben, die aber auf uns zugreifen. Was bleibt uns unzugänglich, aber betrifft trotzdem unsere Identität? Im Fokus steht seither die Frage nach einer relationalen (und nicht autonomen) Identität, die durch viele Aspekte geprägt und hervorgebracht wurde. Wie viel von unserer Familie steckt in uns selbst - und was bedeutet das? Im Keller laufen Projektionen, die aus Super-8-Filmen der Familie und Bosnićs eigenen Aufnahmen zusammengeschnitten worden sind. Die Arbeit verweist auf diese konstitutionelle Unschärfe von Identität und der unmöglichen Abgrenzung des Ich von anderen. Wir sehen eine sich wiederholende Filmschleife, ein verwoben-sein mit der Familie, das Eigene und das Fremde sind hier nicht mehr eindeutig zuordenbar, wo Ich beginnt und wo der Andere endet bleibt in dieser Perspektive auf das Ich offen. Es ist der Hinweis auf eine genealogische Verbindung in eine Vergangenheit, die lange vor unserer eigenen Identität begann, die aber einen Teil von uns ausmacht. Der Loop wirft auch die Frage nach einer drohenden, schicksalsartigen Wiederholung auf: ist Identität determiniert? Kann ich anders werden?

Biografie ist immer Archivarbeit. Die vier Gestelle im Erdgeschoss zeigen Gläser, bzw. Glasscherben, auf denen Fragmente von Familienfotos erkennbar sind: Die Besucher*innen bewegen sich in einem Erinnerungsraum. Aber es handelt sich um keine perfekt dokumentierende Gedächtnismaschine, deutlich wird vielmehr, dass das Vergessen Teil von Identität ist. Die opaken Glasscherben verweisen auf eine flüchtige Gegenwart, die sich nie in Medien vollständig festhalten und reflexiv erfassen lässt. Im Moment der Dokumentation und des Betrachtens ist sie schon längst Teil der/unserer Vergangenheit geworden. Deshalb finden wir zu uns selbst immer nur ein vermitteltes und kein ursprüngliches Verhältnis, erst durch Medien wie Bilder, Filme oder (Auto-)Erzählungen konstruiert sich eine kohärente Identität. Wir bleiben uns trotzdem immer auch fremd.

Auch wenn religiöse Institutionen in ihre sinnstiftende Funktion heute vielerorts verloren haben, lebt das religiöse Wissen in säkularisierten Formen immer noch in uns weiter (bspw. protestantische Arbeiterethik). Institutionen schreiben sich in uns ein und die innerweltliche Ordnung ist immer noch voller religiöser Motive. Die kreisförmige, gotische Kirchenrose verweist auf den panoptischen Blick Gottes, bzw. dessen Allgegenwart: durch die Fenster in der Kirchendecke wissen wir, dass wir gesehen werden. Das Gesehen-werden wiederum verändert (hemmt) unser Handeln und somit unsere Identität. Allerdings fehlen diesen Kirchenfenstern die bleiernen, tragenden Verbindungen und die Fragmente liegen somit auf dem Museumsboden. Auch hier geht es um Sprünge, Brüche und Risse in einer als kohärent imaginierten Identität. Das Subjekt bleibt fragmentiert.

Wie erzählen wir unser Leben? Was macht uns aus? Entlang von welchen Szenen erzählen wir uns? Und mit welchen was macht es mit uns, wenn wir unser Leben performativ erzählen? Kommen wir uns damit ein Stück weit näher? Matej Bosnić verfällt nicht der Versuchung einer nachträglichen Ontologisierung oder der biographischen Illusion (Bourdieu), die alles in einem stimmigen Zusammenhang sieht. Er versteht, dass das dokumentierte Erinnern immer eine praktische Konstruktionsleistung, d.h. eine Arbeit am Selbst ist. Die Spurensuche ist auch eine Hervorbringung. Die Reflexion ist nie unschuldig. Die Recherche nach dem Selbst kann nicht auf eine Essenz, einem wahrhaftigen Kern, d.h. einem authentischen Ich abzielen. Vielmehr muss der Blick auf das Entstehen in Strukturen, Institutionen und Relationen geworfen werden. Der Blick richtet sich dann auch auf die Bedingtheit des Selbst durch andere. Vielmehr interessieren ihn die Brüche, Zwischenräume, Lücken und Unschärfen von Identität. Die Kategorien ‚fremd‘ und ‚eigen‘ liefern eben keine geeignete Orientierung, wenn wir über uns selbst nachdenken wollen. 

Problematisiert wird damit eine essentialistische Vorstellung von Identität, wie dies in der philosophischen Sozialtheorie von Judith Butler formuliert wird:“ Und worauf beruht die Annahme, daß Identitäten selbstidentisch sind, d.h., in der Zeit als selbe, einheitlich und innerlich kohärent fortbestehen?”  (Butler 2012:: 37) Die Suche, eine Hervorbringung.